Kolonial, nie-kolonial, anti-kolonial?

Von Walter Sauer · · 2024/Mai-Jun
drei Porträts von Kolonialisten der österreich-ungarischen Monarchie
v.l.n.r.: ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com; Jean Herbst / Public Domain; Szekely, Josef / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com

Wie es Österreich historisch gesehen mit dem Globalen Süden hält.

Vor etwas mehr als zwei Jahren hieß es, aktuelle Forschungen würden „vielfältige Verstrickungen der Habsburgermonarchie in koloniales Handeln“ aufzeigen, so eine Aussendung des Kulturministeriums vom 20. Jänner 2022. Ein bemerkenswertes Statement, bekannten sich offizielle Erklärungen doch seit Jahrzehnten (!) zur These, Österreich hätte nie etwas mit Kolonialismus am Hut gehabt.

Zumindest für einen Teilbereich hat sich das nun geändert. Österreichs Museen verfügen über Sammlungen aus kolonialer Zeit, und im internationalen Gleichklang sieht das geltende Regierungsprogramm koloniale Provenienzforschung vor. Ein von Staatssekretärin Andrea Mayer eingesetztes Gremium unter Leitung von Jonathan Fine, Direktor des Weltmuseums Wien (Interview mit Fine siehe hier im Dossier) präsentierte im Juni 2023 Empfehlungen für den Umgang der Bundesmuseen mit Objekten aus kolonialem Kontext, die noch in dieser Legislaturperiode in ein Gesetz einfließen sollen. Hoffentlich mit einem expliziten Bekenntnis zur kolonialen Mitverantwortung Österreichs.

Habsburg-Mythos. Die tiefverwurzelte Überzeugung der regierenden Eliten von der „kolonialen Unbelastetheit“ Österreichs (bzw. seiner Vorläuferstaaten) erweist sich als ideologisches Versatzstück. Zurückgehend auf den „Habsburg-Mythos“ der Frühen Neuzeit zielte es auf die Legitimierung unterschiedlicher politischer Zielsetzungen ab: Gegen Ende der Monarchie und wieder nach Zusammenbruch des sogenannten Dritten Reiches diente die fehlende koloniale Vergangenheit dazu, den Statusverlust als europäische Großmacht zu kompensieren; „erobert“ habe Österreich die Welt „durch die Musik (und nicht durch Machtpolitik)“, so der Soziologe August M. Knoll 1947.

In den 1960/70er Jahren fungierte sie als Unterfütterung der Kreisky’schen Außenpolitik – frei von kolonialen Ressentiments sei Österreich in einer guten Position, Kontakte mit Ländern der „Dritten Welt“ aufzubauen –, und in den 2000ern galt sie umgekehrt als „großes Potenzial, eine angemessene außen- und sicherheitspolitische Rolle im EU-Rahmen einzunehmen“ (Österreichische Sicherheits- und Verteidigungspolitik 2005), sich also in den neokolonialen Mainstream einzuordnen. Als „Nie-Kolonialmacht“ oder zumindest „Kolonialmacht nicht im eigentlichen Sinn“ habe Österreich in seiner Geschichte ein „edleres“, „uneigennütziges“, „unbelastetes“ usw. Verhalten an den Tag gelegt als andere – Grundelement einer fragwürdigen Identitätskonstruktion.

Fehlende Auseinandersetzung. Über weite Strecken hinweg hat dieser Elitenkonsens auch die geschichtswissenschaftliche Forschung beherrscht. Erst 2002 hat der Sammelband „k.u.k. kolonial – Habsburgermonarchie und europäische Herrschaft in Afrika“ (herausgegeben vom Autor dieses Artikels, Anm. d. Red.) durch Heranziehung von internationalen Forschungsergebnissen und genaueres Quellenstudium den ideologischen Diskurs relativiert. Vorher setzte sich niemand damit auseinander.

Nur die Diskussion, ob und in welchem Sinn die Balkan- und speziell Bosnienpolitik der Monarchie als „kolonial“ anzusehen sei, gab es bereits. Damit war die europäische Position der Monarchie angesprochen. Aber ihre Haltung zur kolonialen Welt?

Was Kolonialismus braucht. Österreich-Ungarn war nicht das British Empire oder Frankreich, es war nicht für die Politik der „abgehackten Hände“ im Kongo Leopolds II. verantwortlich oder für den Völkermord in Namibia. Aber Kolonialismus ist nicht nur staatliche Hoheit. Kolonialismus braucht Rüstungsgüter, eine willfährige Wissenschaft (Geografie, Geologie und Botanik, Linguistik, Kultur- und Sozialanthropologie, Tropenmedizin usw.), politische und juristische Legitimationen und nicht zuletzt Händler und Soldaten, Missionare und Bürokraten – lange vor und lange nach Inbesitznahme eines Territoriums.

Nur durch die Unterstützung von Institutionen und Bevölkerungen anderer europäischer Länder waren die „Kolonialmächte“ imstande, Eroberungen durchzuführen und abzusichern – und zu guter Letzt Ausbeutungsmechanismen in den Kolonien zu etablieren. Für deren Rohstoffe und Genussmittel gab es Märkte in ganz Europa.

Dabei geraten die habsburgischen Länder (und das heutige Österreich) in fast allen Bereichen in den Blick: Die Jesuiten Mitte des 19. Jahrhunderts im Südsudan (heutige regionale Bezeichungen, Anm. d. Red.) – nur unpolitische Missionare? Der Suezkanal, zu dessen Gründungsaktionären die Monarchie zählte, – nur ein technisches Wunderwerk? Emil Holub im Süden Afrikas, Friedrich Welwitsch in Angola, Oscar Baumann in Tansania, Andreas Reischek in Neuseeland – alles nur wertfreie Forscher? Gouverneur Rudolf Slatin im Sudan – ein Menschenrechtskämpfer? Heimische Marinesoldaten bei den „Strafexpeditionen“ 1900 in China – weniger grausam als ihre deutschen Kollegen?

Sicher, auf Regierungsebene gab es Phasen stärkeren und schwächeren Übersee-Engagements, aber Reichsrat und Behörden segneten alle kolonialen Eroberungen ab, und Antikolonialismus war keine Option – mit wenigen Ausnahmen wie dem böhmischen Schuldirektor Ferdinand Blumentritt, der den philippinischen Freiheitskampf unterstützte.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen Kolonialinteressen in staatlichen Institutionen zu. Admiral von Sterneck 1884: „Die Zeitungen sind voll Dementis, nämlich, dass es Oesterreich gar nicht beifällt, auswärtige Colonien, Factoreien etc. zu gründen, jedenfalls wäre es dermalen viel zu früh, daran zu denken, nichtsdestoweniger aber ist es keine Unmöglichkeit; wer weiss, was uns die Zukunft bringt (…) warum soll Oesterreich davor zurückschrecken?“

Extreme Lobbys träumten sogar davon, nach einem deutsch-österreichischen Sieg im Ersten Weltkrieg Teile des Überseebesitzes der „Verlierermächte“ zu übernehmen.

Viel zu tun. Das wäre heutzutage alles nicht so wichtig, wenn… Österreich durch seine Beteiligung am Kolonialismus – auch wenn nur in zweiter Reihe – nicht zu den pro Kopf reichsten und gleichzeitig am wenigsten solidarischen Staaten des sogenannten Westens gehörte (wie sich etwa an seiner „frugalen“ Entwicklungspolitik zeigt); das Bewusstsein der Durchschnittsbevölkerung nicht stark von kolonialen und rassistischen Stereotypen beeinflusst wäre; oder nicht auch hier ständig die Idee aufpoppen würde, Asylwerbende in Auffanglagern unter europäischer Hoheit in Nordafrika zu konzentrieren – also neue Kolonien zu schaffen. Um ein nicht-, geschweige denn anti-koloniales Verhältnis zum Globalen Süden zu entwickeln, ist noch viel zu tun – und Vergangenheitsbewältigung ein Teil davon.

Walter Sauer ist Historiker und (gemeinsam mit Karin Fischer) Träger des Österreichischen Preises für Entwicklungsforschung 2023.

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